Schriftliche Anfrage: Steuerhinterziehung durch Scheinfirmensitze in Gewerbesteueroasen

Am 20.12.2021 befragte ich die Staatsregierung bezüglich der Steuerhinterziehung durch Scheinfirmensitze in Gewerbesteueroasen. Meine Fragen wurden am 18.01.2022 von dem Staatsministerium der Finanzen und für Heimat beantwortet:

Vorbemerkung:

Die kommunale Selbstvemaltung ist ein hohes verfassungsrechtliches Gut. Die dafür notwendige finanzielle Ausstattung wird u. a. durch eigene Steuerquellen der Kommunen insbesondere in Form der Gewerbesteuer verbunden mit einem eigenen Hebesatzrecht sichergestellt (Art. 28 Absatz 2, 106 Absatz Grundgesetz GG). Der Gewerbesteuerhebesatz kann somit unter den Kommunen variieren, muss nach der bundesgesetzlichen Regelung des 16 Absatz Gewerbesteuergesetz (GewStG) aber mindestens 200 betragen. Den Kommunen ist es damit verfassungsrechtlich garantiert, dass sie regionale Standortfaktoren bei der Hebesatzfestsetzung berücksichtigen können und damit am interkommünalen Wettbewerb um Gewerbeansiedlungen teilnehmen.

1.1 Welche Erkenntnisse liegen der Staatsregierung darüber vor, dass Firmensitze (bspw. durch ein sog. Virtual Office) systematisch in Kommunen mit sehr niedrigem Gewerbesteuerhebesatz verlagert werden, um die Gewerbesteuerlast zu senken?

1.2 Welche Erkenntnisse liegen der Staatsregierung darüber vor, dass hierbei gegen die einschlägigen Regelungen des Gewerbesteuergesetzes und der Abgabenordnung verstoßen wird?

1.3 Welche Maßnahmen ergreift die Bayerische Staatsregierung, um gegen entsprechende Fälle von Steuerhinterziehung vorzugehen?

Die Fragen 1.1, 1.2 und 1.3 werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam wie folgt beantwortet:
Die Wahl des geeigneten Unternehmensstandorts ist Ausdruck der unternehmerischen Freiheit eines jeden einzelnen Gewerbetreibenden und hängt regelmäßig von ganz verschiedenartigen Faktoren wie beispielsweise der vorzufindenden Infrastruktur und Marktbedingungen oder auch dem Angebot an Fachkräften und weiteren Rahmenbedingungen vor Ort ab. Ein Verstoß gegen Regelungen des Gewerbesteuergesetzes und der Abgabenordnung ist allein durch die Verlagerung des Firmensitzes in Gemeinden mit niedrigem Gewerbesteuerhebesatz nicht gegeben.
Aufgabe der Finanzämter ist es, Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben (§§ 85, 249 Abgabenordnung AO). Bestehen Zweifel, ob der erklärte Firmensitz als Ort der Geschäftsleitung in Betracht kommt und eine Betriebsstätte begründet, ermitteln die Finanzämter die tatsächlichen Gegebenheiten.
In diesem Zusammenhang finden auch Außenprüfungen nach 193 AO mit Betriebsbesichtigungen und bei einem (Anfangs-)Verdacht einer verfolgbaren Steuerstraftat auch Steuerfahndungsprüfungen nach 208 AO statt.
Erkenntnisse über eine systematische Verlagerung, d. h. einer gemeinsam geplanten und ausgeführten Aktion einer Vielzahl von Steuersubjekten, liegen nicht vor.

2.1 Welche Tatbestände müssen vorliegen, damit eine Steuerhinterziehung durch einen Scheinfirmensitz vorliegt?

2.2 Welche gesetzlichen Vorschriften sind hierbei einschlägig?

2.3 Unter welchen Umständen machen sich Vermieter von entsprechenden Büroräumlichkeiten oder Briefkästen der Beihilfe schuldig?

Die Fragen 2.1, 2.2 und 2.3 werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam wie folgt beantwortet:
Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird nach 370 AO insbesondere bestraft, wer den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht, und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt. Wird in der Steuererklärung ein Ort als Betriebsstätte angegeben, der die Erfordernisse nach 12 AO nicht erfüllt (Scheinfirmensitz), und kommt es deswegen zu einer ungerechtfertigten Verlagerung der Hebeberechtigung in eine Kommune mit niedrigerem Hebesatz, so kann dies den Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllen.
Eine Strafbarkeit wegen Beihilfe (5 27 Strafgesetzbuch StGB) setzt auf subjektiver Seite einen doppelten Gehilfenvorsatz voraus. Dieser muss die Unterstützungshandlung (d. h. die Vermietung) umfassen und sich auf die
Vollendung einer vorsätzlich begangenen Haupttat (cl. h. die Hinterziehung von Gewerbesteuer) richten, wobei es genügt, dass der Gehilfe erkennt und billigend in Kauf nimmt, dass sein Beitrag sich als unterstützender Bestandteil in einer Straftat manifestieren wird.

3.1 Wie beurteilt die Staatsregierung die Praxis von sog. Virtual Offices steuerrechtlich?

3.2 Welche gesetzlichen Vorschriften sind hierbei einschlägig?

Die Fragen 3.1 und 3.2 werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam wie folgt beantwortet:
Nach des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) unterliegen Gewerbebetriebe, die keine Reisegewerbebetriebe sind, der Gewerbesteuer in der Gemeinde, in der eine Betriebsstätte zur Ausübung des stehenden Gewerbes unterhalten wird. Der Begriff der Betriebsstätte ergibt sich aus 12 AO und ist definiert als jede feste Geschäftseinrichtung oder Anlage, die der Tätigkeit eines Unternehmens dient. Sie muss u. a. örtlich fixiert sein und der Unternehmer muss darin seine eigene gewerbliche Tätigkeit ausüben. Außerdem muss der Unternehmer eine gewisse, nicht nur vorübergehende, Verfügüngsmacht über diese Einrichtung haben. Nach 12 Satz AO ist insbesondere auch die Stätte der Geschäftsleitung als Betriebsstätte anzusehen.
Geschäftsleitung ist nach 10 AO der Mittelpunkt der geschäftlichen OberIeitung. Dieser Mittelpunkt liegt nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (BFH) dort, wo der für die Geschäftsführung maßgebliche Wille gebildet wird. Regelmäßig ist das der Ort, an dem die zur Vertretung befugten Personen die ihnen obliegende laufende Geschäftsführertätigkeit entfalten, d. h. an dem sie die tatsächlichen und rechtsgeschäftlichen Handlungen vornehmen, die der gewöhnliche Betrieb der Gesellschaft mit sich bringt (sog. Tagesgeschäfte). Die Prüfung und Entscheidung über das Vorliegen einer (Geschäftsleitungs—)Betriebsstätte i. S. des 12 AO hängt damit entscheidend von den tatsächlichen Gegebenheiten des Einzelfalls ab.
Die Ausübung von Tätigkeiten im Rahmen eines steuergesetzlich nicht näher definierten sog. „Virtual Office“ können nur dann zu einer steuerlichen Betriebsstätte führen, wenn diese Wirkungsstätte die Voraussetzungen des 12 AO erfüllen. Auch hier kommt es auf die Ausgestaltung in jedem Einzelfall an.

3.3 Unter welchen Umständen machen sich Vermieter von sog. Virtual Offices der Beihilfe schuldig?

Insofern wird auf die Antwort auf die Fragen 2.1, 2.2 und 2.3 verwiesen.

4.1 Wie oft wurden zwischen 2016 und 2021 bei den Bayerischen Behörden Ermittlungen wegen möglichen Gewerbesteuerbetrugs geführt (bitte einzeln pro Jahr und Regierungsbezirk angeben, dabei München Stadt und München Land gesondert aufführen, und den jeweiligen Stand der Ermittlungen angeben)?

4.2 In wie vielen Fällen war eine potentiell unzulässige Angabe des Firmensitzes Grund für diese Ermittlungen (bitte pro Jahr aufführen)?

4.3 ln wie vielen Fällen führten die Ermittlungen unter 2.1 und 2.2 zu rechtskräftigen Urteilen (bitte pro Jahr aufführen)?

Die Fragen 4.1, 4.2 und 4.3 werden gemeinsam wie folgt beantwortet:
Die Anzahl der Fälle, in denen Ermittlungen wegen Gewerbesteuerhinterziehung erfolgen, wird statistisch nicht gesondert erfasst.

5.1 Wie viele Firmen und Betriebsstätten sind in der Gemeinde Grünwald gemeldet bzw. steuerlich veranlagt?

5.2 Welche Erkenntnisse liegen der Staatsregierung darüber vor, dass Unternehmen in Grünwald Scheinfirmensitze zur Reduzierung der Gewerbesteuerlast unterhalten?

5.3 Wie oft wurden zwischen 2016 und 2021 seitens der Bayerischen Finanz- behörden Maßnahmen ergriffen, um dem Verdacht des Gewerbesteuerbetrugs durch Firmenverlagerung nach Grünwald nachzugehen (bitte pro
Jahr angeben und jeweilige Maßnahme und beteiligte Behörde aufführen)?

6.1 Wie viele Firmen und Betriebsstätten sind in der Stadt Bad Wörishofen gemeldet bzw. steuerlich veranlagt?

6.2 Welche Erkenntnisse liegen der Staatsregierung darüber vor, dass Unternehmen in Bad Wörishofen Scheinfirmensitze zur Reduzierung der Gewerbesteuerlast unterhalten?

6.3 Wie oft wurden zwischen 2016 und 2021 seitens der Bayerischen Finanzbehörden Maßnahmen ergriffen, um dem Verdacht des Gewerbesteuerbetrugs durch Firmenverlagerung nach Bad Wörishofen nachzugehen (bitte pro Jahr angeben und jeweilige Maßnahme und beteiligte Behörde aufführen)?

7.1 Wie viele Firmen und Betriebsstätten sind in der Stadt Kemnath gemeldet bzw. steuerlich veranlagt?

7.2 Welche Erkenntnisse liegen der Staatsregierung darüber vor, dass Unternehmen in Kemnath Scheinfirmensitze zur Reduzierung der Gewerbesteuerlast unterhalten?

7.3 Wie oft wurden zwischen 2016 und 2021 seitens der Bayerischen Finanzbehörden Maßnahmen ergriffen, um dem Verdacht des Gewerbesteuerbetrugs durch Firmenverlagerung nach Kemnath nachzugehen (bitte pro Jahr angeben und jeweilige Maßnahme und beteiligte Behörde aufführen)?

Die Fragen 5.1, 5.2, 5.3, 6.1, 6.2, 6.3, 7.1, 7.2 und 7.3 werden gemeinsam wie folgt beantwortet:
Zum 28. Dezember 2021 waren bei den bayerischen Finanzämtern insgesamt die folgenden zur Gewerbesteuer veranlagten Fälle mit Adresse in der Gemeinde Grünwald und den Städten Bad Wörishofen und Kemnath erfasst.

Ob in diesen Fällen im Einzugsgebiet der aufgeführten Kommunen die einzige Betriebsstätte unterhalten wird und daher der gesamte vom Finanzamt festzustellende Gewerbesteuermessbetrag auf diese entfällt, konnte nicht maschinell ermittelt werden.
Aus durchgeführten Steuerfahndungsprüfungen liegen Erkenntnisse vor, wonach tatsächlich in München ansässige Unternehmen in einzelnen Fällen den Sitz von Gesellschaften mit hoher effektiver Gewerbesteuerbelastung gezielt und nur zum Schein in Gemeinden verlagern, deren Hebesätze deutlich niedriger sind. Statistische Aufzeichnungen hinsichtlich der Fallzahlen einzelner Steuerarten oder des Ortes zu Ermittlungen bei Steuerhinterziehung werden jedoch generell nicht geführt.

8.1 Plant oder unternimmt die Staatsregierung bereits konkrete Ermittlungsmaßnahmen (bspw. gezielte Prüfungen, Schwerpunktuntersuchungen, o. ä.), um gegen Steuerhinterziehung durch Scheinfirmensitze oder Virtual Offices vorzugehen?

8.2 Wenn ja, welche?

8.3 Welche Maßnahmen unternimmt die Staatsregierung, um gegen Steuerhinterziehung durch Virtual Offices am Standort Grünwald vorzugehen (bspw. gezielte Prüfungen, Schwerpunktuntersuchungen, o. ä.)?

Die Fragen 8.1, 8.2 und 8.3 werden gemeinsam wie folgt beantwortet:
Die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -vermeidung ist der Staatsregierung seit jeher ein sehr wichtiges Anliegen. Diesbezügliche Planungen sind verwaltungsinterne Vorgänge, zu denen auch aus ermittlungstaktischen Gründen keine Auskunft erteilt werden kann. lm Übrigen wird insbesondere auf die Antworten zu den Fragen 1.3, 2.1, 2.2, 2.3 und 3.1 verwiesen.